In Afrika, vornehmlich Westafrika, wachsen Kinder häufig bei Verwandten oder anderen Erwachsenen statt bei den leiblichen Eltern auf und doch erleben und respektieren die Kinder diese »Zweiteltern« und erleben sie auch als Eltern. Die Sozialanthropologin Professor Dr. Erdmute Alber hat nun ein Buch zu den Gründen und Auswirkungen dieser Praxis veröffentlicht. Ein interessantes Thema auch für uns Westeuropäer, vor allem vor dem Hintergrund aktueller Diskussion um neue Modelle des Zusammenlebens von Partnern.
Folgendes finde ich in der Presseerklärung zum Buch besonders interessant: Auch ohne dass Krankheit, Tod oder Armut der leiblichen Eltern dies erzwingen, leben westafrikanische Kinder häufig in der Obhut von anderen Erwachsenen. Und dabei werden, man höre uns staune, die sozialen Eltern-Kind-Beziehungen durch die fehlende biologische Abstammung keineswegs beeinträchtigt und von den leiblichen Eltern anerkannt, in vielen Fällen sogar gewünscht.
In den dortigen Ländern sei Kindspflegschaft nicht als eine statische Institution (wie in Deutschland), sondern vielmehr als eine flexible gesellschaftliche Praxis aufzufassen. Die Zugehörigkeit der Kinder werde von den leiblichen Eltern auf die Pflegeeltern für einen längeren Zeitraum übertragen, ohne dass dieser Transfer einen endgültigen, unveränderlichen Zustand begründen würde. Stattdessen bleibe die Zugehörigkeit der Kinder, wie auch die familiären Beziehungen insgesamt, in einen gesellschaftlichen und kulturellen Fließzustand eingebettet, der sich starren institutionellen Regeln entzieht.
Erdmute Alber geht dabei soweit, Verwandtschaft als eine Form der Zugehörigkeit, die primär nicht in biologischer Abstammung, sondern im Bewusstsein der Menschen verankert ist und ihren konkreten Ausdruck in Symbolen, Handlungen, Emotionen und sozialen Erwartungen findet, zu definieren. In einer Fallstudie zur Volksgruppe der Fée im Nordosten Benins zeigt Dr. Jeannett Martin (ebenfalls Autorin des Buches, siehe unten), wie unterschiedlich die sozialen und emotionalen Erfahrungen von Pflegekindern sein können, die in der Obhut von Verwandten leben. Handelt es sich um Verwandte der leiblichen Mutter, erleben die Kinder ihr familiäres Umfeld als beschützend, vertrauensvoll und tolerant; wachsen sie hingegen bei Verwandten des leiblichen Vaters auf, sind sie viel häufiger mit Konflikten, Unsicherheit und autoritärem Verhalten konfrontiert.
Für mich ein Thema, das zum Nachdenken anregt. Ob Patchworkfamilie, Homeehe oder privat organisierte Kinderbetreuung - flexiblere Modelle könnten Erleichterung für überforderte Eltern und auch mehr Flexibilität im Berufsleben ermöglichen.
Die Studie:
Erdmute Alber, Jeannett Martin and Catrien Notermans (eds.),
Child Fostering in Africa. New Perspectives on Theory and Practices.
Africa-Europe Group for Interdisciplinary Studies, Vol. 9.
Leiden – Boston 2013, 250 pp.
Weiterführende Informationen: